Schreiben und Lesen – freie Bahn für Hieroglyphen

 

 

© Hiéroglyphes temple de Komombo, March 2000, Author: Aoineko

 

 

 

In der Schule hatten wir früher gelernt, Schreiben sei geordnetes Denken. Ich glaube, dass die Schule mit dieser Behauptung damals recht hatte und sich diese Erfahrung im Laufe der Jahrzehnte verflüchtigte. Wer die Seiten der Boulevard-Presse überfliegt, wird den Eindruck gewinnen: wer nicht denkt, tut sich beim Schreiben leichter – und was das Lesen betrifft, so ist die jüngere Generation dabei, es völlig zu verlernen.

 

Das beweisen nicht nur die PISA-Studien, sondern vor allem die Klagen der ArbeitgeberInnen über fehlende Schreib- Lese- und Rechenkenntnisse von Lehrlingen/Auszubildenden und die explodierende Zahl an Piktogrammen – das sind jene kleine Täfelchen, mit denen wir ohne Text aufgefordert werden, im Autobus kein Eis zu essen oder Elefanten nicht ins Museum mitzunehmen. Bald werden wir wieder die Hochkultur Ägyptens erreicht haben, in der es nur Piktogramme – Hieroglyphen genannt – gab.

 

Wer bzw. was hat diesen Verfall verursacht?

 

1. Moderne Schulpädagogik: Insbesondere in Deutschland gab es seit einigen Jahrzehnten Entwicklungen, die den Verfall der Fähigkeiten des Schreibens und Lesens eingeleitet haben.

 

1.1.Beim ganzheitlichen Lesen geht frau/man davon aus, dass eine Buchstabenfolge als visuelle Einheit erfasst und die Wortbedeutung im Gehirn „ideografisch“ erkannt wird – diese Vorstellung gilt heute als möglicherweise falsch (sie wurde bisher noch nicht schlüssig bewiesen).

 

1.2.Dem ganzheitlichen Schreiben liegen ähnliche Vorstellungen zugrunde – auch hier gibt es jedoch Experimente nach denen solche Vorstellungen kritisch betrachtet werden müssen (z.B. mit Patienten, die nach einem Schlaganfall eine Aphasie(1) erlitten haben).

 

1.3.Das lästige „Einmaleins“ gilt zwar auch heute noch als Grundlage des Rechenunterrichtes, die Beherrschung des „großen“ Einmaleins wurde – zumindest in Deutschland – weitgehend abgeschafft. Die allzu frühe Verwendung von Taschenrechnern ist eine der Hauptursachen für Rechenschwächen.

 

Für Kinder die ganzheitlich erzogen wurden, sind Begriffe wie Haus, Maus, Laus etc. solange bedeutungslos, sofern sie nicht mit den Bildsymbolen von Haus, Maus oder Laus verbunden sind. Diese Verknüpfung wird beim Lehren nach der ganzheitlichen Methode zwar bewusst praktiziert – in der Praxis stehen beim Lesen später jedoch nicht immer die erforderlichen Bildinformationen im Gehirn zur Verfügung und so kommt es eben dazu, dass Lehrlinge später „Montaschearbeiten“ statt Montagearbeiten oder Leerbuch statt Lehrbuch schreiben. Bei der altmodischen synthetischen Erlernung des Schreibens gab es solche Defizite nicht.

 

Die geniale Erfindung der Alphabetenschriften und Silbenschriften im Altertum war daher den "piktografischen" Schriften (z.B. den Hieroglyphen) haushoch überlegen.

 

Anm.: laut einer Nachricht in n-tv online v. 8.9.2015 gibt es inzwischen allein in Deutschland 7,5 Millionen funktionale Analphabeten.

 

Ein weiterer Fehler des modernen Unterrichtes ist, dass in Schulbücher hineingeschrieben werden kann/darf/muss – ein Großteil der Hausaufgaben wird mit derart vorgefertigten Schablonen „absolviert“. Inwieweit dadurch das heute anscheinend häufigere Problem der Legasthenie gefördert wird, kann der Autor nicht beurteilen – in seiner Schulklasse (1946-1954) gab es jedenfalls keine Legastheniker - oder falls eine leichte Legasthenie damals nicht erkannt wurde, war dies kein Hinderungsgrund für ein universitäres Studium oder im späteren Beruf. Auch der zu frühe bzw. schlechte und zu häufige Umgang mit dem Internet, geht zu Lasten des Schreibens und Zuhörens.

 

2. Multiple Choice: Aus drei oder mehreren Möglichkeiten muss eine (die richtige Lösung) angekreuzt werden.

 

Vorteil: solche Prüfungstests können maschinell ausgewertet werden.

 

Nachteil: „Raten“ und „Testfähigkeit“. Das Erraten ist kein wirkliches Wissen. Unter Testfähigkeit (amerikanisch testwiseness) versteht frau/man die Fähigkeit, bei unvollständigem Fachwissen aus rein formalen Hinweisen die richtige Lösung zu erschließen – das ist allenfalls ein Zeichen von Intelligenz, aber kein Wissen/Fachwissen. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass Intelligenz ohne Wissen eine „vergeudete Begabung“ ist, wobei anzumerken wäre, dass der Intelligenzquotient (IQ) mit zunehmendem Wissen nachgewiesenermaßen steigt.

 

Da „Multiple Choice“ inzwischen sowohl im schulischen Bereich, als auch bei allen Intelligenztests, Führerscheinprüfungen und sonstigen Prüfungen, u.a. an Universitäten (2) und auch bei den PISA-Tests immer stärker praktiziert wird, nehmen Fähigkeiten wie Schreiben, Lesen, Rechnen und Sprechen systematisch ab.

Durch die zu häufige Verwendung des Smartphones und die zunehmende Kommunikation über Social Networks entstehen inzwischen auch in der Umgangssprache Sprachgewohnheiten, die als "Kurzdeutsch" bezeichnet werden (siehe Abschnitt 4. Facebook & Co.)

 

3. Die Bildüberflutung

 

Bilder haben von jeher eine große Bedeutung für Menschen gehabt, für Analphabeten sind Bilder die einzige Möglichkeit an der Umwelt teilzuhaben. Wir – in Europa und in vielen anderen Kontinenten – sind aber keine Analphabeten, daher ist die „Bildüberflutung“ durch die Medien ein wesentliches Hindernis für die Fähigkeit der Erlernung des Lesens (und Schreibens). Wer nur noch Comics konsumiert (da sind auch die von vielen Lehrern hochgelobten „Asterix und Obelix Comics inbegriffen), wird kaum mehr ein längeres Buch lesen oder schreiben.

 

4. Twitter & Co.

 

Das Alter der TeilnehmerInnen in Netzwerken wie Facebook, Instagram u.a. wird immer jünger. Wer alle seine Befindlichkeiten in kurzen, oft orthographisch und stilistisch mangelhaften Sätzen mit anderen austauscht, wird die Kunst des “Schreibens” endgültig verlernen bzw. nie erlernen – maximal 140 Zeichen (bei Twitter) sind für unausgegorene Gedanken zwar schon fast zu viel, um anspruchsvolle Texte zu schreiben, jedoch meist zu wenig. Die zunehmende Verwendung von "smilies", durch die inzwischen fast jede Seelenlage oder Schieflage ausgedrückt werden kann, vervollständigt die sprachliche Unsicherheit der heranwachsenden Generationen.

 

Eine wesentliche Aufgabe der Schule wäre es, den richtigen Umgang mit dem Internet und seinen phantastischen Möglichkeiten zu lehren, ohne die herkömmlichen Formen des Schreibens und Lesens zu vernachlässigen – ansonsten landet unsere Kultur in einer Bildsprache, die den Hieroglyphen der alten Ägypter oder den noch älteren sumerischen Keilschriften nicht unähnlich ist.

 

 

(30.9 2015 und am 20.9.2016 redigierte Fassung)

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(1) Aphasien treten nach neurologischen Erkrankungen (Schlaganfall, Schädelhirntrauma, Gehirnblutung nach Venenthrombose, Tumoren, entzündlichen Erkrankungen, Intoxikation) nach abgeschlossenem Spracherwerb auf. Sie verursachen Beeinträchtigungen in den einzelnen sprachlichen Modalitäten (Sprechen, Verstehen, Schreiben und Lesen) in unterschiedlichen Schweregraden.

 

(2) Der Autor hat während seines gesamten Chemiestudiums keine einzige Prüfung (außer der Doktorarbeit) schriftlich oder gar im Multiple Choice Verfahren ablegt. 90 Prozent aller Prüfungen wurden öffentlich in den Laboratorien oder im Hörsaal mit Auditorium abgehalten – eine hilfreiche Methode zu lernen, sich sprachlich ausdrücken und später keine Angst mehr vor öffentlichen Reden zu haben. Unsere Massenuniversitäten erlauben das nicht mehr – trotzdem sollte versucht werden, den StudentInnen etwas mehr Gelegenheiten einzuräumen, öffentliche Referate zu halten.

 

 

 

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